Von der Integrität und wo sie schnell mal geopfert wird.
Im Garten meiner Eltern stand eine einzigartige Fichte. Ihr Stamm war geteilt und die beiden Hälften umarmten sich wie ein Liebespaar. Es war ein ganz besonderer Baum, nicht gerade, stramm und stark, sondern gewunden, krumm und eben Besonders. Die beiden Hälften waren gerade auf dem Weg die dritte Umschlingung zu beginnen, als mein Vater die Entscheidung traf, eine der beiden Hälften abzusägen. Er entschied sich für den schwächer aussehenden Teil des Baumes. Er begründete diesen Entschluss damit, das er dem Baum einen Gefallen tun würde. Es würde die verbleibende Hälfte stärken und der Baum könne sich besser entwickeln. Schließlich könne sich dann noch ein starker, gerader Baum daraus entwickeln....
Dem Baum wurde seine Hälfte genommen und er starb.
Heute erinnert nur noch der stumpfe, abgesägte Baumstamm an den einzigartigen Baum. Meine Mutter nutzt den Baumstumpf als Abstellmöglichkeit für eine bepflanzte Blumenschale.
Die Einzigartigkeit unserer Kinder und was wir Erwachsenen unter Umständen daraus machen:
Es gibt in mir ein sehr ausgeprägtes ‚immer bereits wissen‘, was wohl gut für meine Kinder ist. Es bedarf eines großen Aufwandes von mir, dieses „immer bereits wissen“ klein zu halten und statt dessen zuzuhören und mit den Kindern zu sein.
Ja wir Eltern, wir wissen, was richtig ist:
- Wir wissen, was sie essen sollen , was nicht
- Wie sie essen sollen , wie nicht
- Wo sie schlafen sollen , wo nicht
- Wann sie schlafen sollen, wann nicht
- Mit was sie spielen sollen , mit was nicht
- Mit wem sie spielen sollen, mit wem nicht
- Wir wissen was sie anziehen sollen, was nicht
- Wir wissen was die angemessene Kleidung ist und was nicht
- Wir wissen, was der richtige Kindergarten ist und was nicht
- Welche Schule man besucht und welche nicht
- Mit welchen Menschen man sich am besten umgibt und mit welchen nicht
- Wir wissen wie viel Fernsehen angemessen und wie viel nicht, welche Computerprogramme und welche nicht.
- Wir haben eine Meinung wie das Kinderzimmer auszusehen hat und wie nicht.
- Wann man produktiv und aktiv zu sein hat und wann nicht.
- Wie man die Haare zu schneiden hat und wie nicht.
- ...
Versetzte dich in folgende Situationen und empfinde, was die reine Vorstellung mit dir macht?
- Du hast keine Ahnung, was das ‚Richtige‘ für dein Kind ist.
- Dein Kind isst, was es meint, was gut für es ist und wie viel gut für es ist.
- Es isst den Nachtisch vor der Suppe und das Fleisch ohne das Gemüse.
- Es schläft in deinem Bett oder im Wohnzimmer auf der Couch, oder auf einer Decke vor seinem Bett.
- Es schläft nachmittags um Fünf, weil es da müde ist und abends um 10 Uhr, weil es dann noch den Abend mit dir verbringen kann.
- Es ist o.k., das es nicht mit dem teuren Spielzeug spielt, das du ihm geschenkt hast. Es ist o.k. das es mit seinem Spielzeug genau so spielt, wie es selbst das möchte, dabei geht es vielleicht kaputt?
- Es ist prima, das es genau mit dem Kind spielt, obwohl du die Mutter nicht leiden kannst, oder die Eltern für sozial nicht angemessen hältst.
- Du kannst damit sein, das dein Kind in einer Farbkombination das Haus verlässt und jeder im Supermarkt von dir denken muss, dass du dich nicht angemessen um dein Kind kümmerst.
- Du hältst es aus, das dein Kind immer ohne Jacke geht.
- Du bist zufrieden, dass dein Kind diese Lehrerin hat und in jene Klasse geht, die einen 60% Ausländeranteil hat.
- Du kannst gut damit sein, dass dein 16 jähriger Sohn eine Beziehung mit einer 19-Jährigen hat.
- Du kannst gut damit sein, dass dein Kind den ganzen Samstag vor der Glotze liegt oder einen Film sieht, den du für nicht so angemessen hältst.
- Du hältst es so lange aus, ohne ein Wort zu sagen, bis dein Kind sein Zimmer selbst aufräumt.
- Du kannst gut damit sein, dass dein Kind/ Teenager ein Nickerchen macht, obwohl du gerade Stress hast und es viel Arbeit gibt.
- Du kannst gut damit sein, dass dein Teenager die Haare, die lange nicht geschnitten wurden, abschneidet und rot einfärbt.
Wenn du bis hierhin weiter gelesen hast, kann es sein, dass in dir der innere Dialog entspringt, dass die antiautoritäre Erziehung ja schließlich auch nicht das Gelbe vom Ei war und das dieses Grenzenlose im Umgang mit den Kindern ja auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Aber, was bitte ist denn nun richtig? Was will sie denn nur diese Autorin?
Sie will ihre Kinder befähigen, dass die Kinder so oft als möglich sie selbst sein können, dass sie sich annehmen können, so wie sie sind und dass sie erkennen und erfahren können, dass alle Menschen in einem Boot sitzen.
Auf dem Weg dahin schlage ich einen ganz individuellen, manchmal verschlungenen Weg ein zwischen Nicht-wissen und wissen, zwischen manchmal direktiv sein und nicht direktiv sein, zwischen zulassen und bestimmen.
Ein ‚richtig‘ und ein ‚falsch‘ im Umgang mit den Kindern gibt an gewissen Stellen nicht, nur meine Verpflichtung, meine Integrität und die der Kinder so oft als möglich zu wahren. Das kann nicht immer geradeaus und simpel sein. Es braucht, dass man sich als Erwachsener selbst da heraus schält, sich selbst entfaltet und entwickelt. Tag für Tag.
Du fragst dich vielleicht: Integrität der Kinder, gibt es denn das? Schließlich muss man sie doch zu einem „brauchbaren" Mitglied dieser Gesellschaft erziehen? Irgendwie muss man ihnen doch sagen wo es lang geht? Man kann sie doch nicht einfach lassen?
Ich denke, dass es da so etwas gibt in den Kindern, das sehr wohl weiß, was angemessen ist, etwas, das es zu schützen gilt, etwas, das es nicht abzusägen gilt, etwas, das je individuell ist, einzigartig und das man schlecht in Worte fassen kann. Wenn man diesen Teil des Kindes absägt, um einen anderen Teil vermeintlich zu stärken, dann stirbt das ganze Bäumchen. Bei der Fichte im Garten meiner Eltern war das ganz offensichtlich, bei Kindern ist das nicht ganz so leicht zu sehen: Man sieht es in ihren Augen und daran wie sie sich in die Welt stellen. Für den ungeübten Betrachter sind sie ganz normale Kinder, für den erfahrenen Betrachter sind sie ein 'abgesägtes Bäumchen', dessen Stumpf man als Abstellfläche für einen Blumentopf nutzt.
Das nächste Tagesseminar Wie du Stress und ‚genervt sein‘ im Alltag mit deinem Kind in Leichtigkeit und Freude verwandelst findet am 18.02.16 statt. Hier findest du nähere Informationen.
Von der Integrität und wo sie schnell mal geopfert wird.