Von GrenzWERTen und Spielräumen. Lernen braucht veränderliche Grenzen
Grenzen sind da. Grenzen sind wichtig. Grenzen können sich ausdehnen. Grenzen können sich verändern. Grenzen sind WERTvoll. Grenzen müssen sich auch auflösen (dürfen). Alles ist in Bewegung.
Wenn man zu einer Ärztin geht und mit ihr die Ergebnisse der eigenen Blutuntersuchung bespricht, dann schaut sie, ob die einzelnen Werte, die untersucht wurden innerhalb eines Grenzwertes liegen. Dieser darf ein Stück in beide Richtungen ,vom Normwert aus gesehen, abweichen. Alles ist in Ordnung, so lange sich der entsprechende Blutwert in einem gewissen Spielraum befindet.
Unser Körper hat eine enorme Fähigkeit der Selbstregulation. Kleinste Störungen, werden im Gesamtorganismus so ausgeglichen, dass das Gesamtbild auf wundersame Weise immer versucht ein Gleichgewicht herzustellen.
Das ist mega toll.
In Erziehung und Lernen hingegen haben wir die seltsamen Vorstellungen gebildet, dass Kinder einem erdachten Wert X entsprechen müssten. Erwachsene versuchen ständig und in vielen Lebenszusammenhängen, diesen Superwert X herzustellen. Dazu haben wir uns Methoden und Regeln ausgedacht. Das Wort Grenzen spielt in dem Zusammenhang eine große Rolle.
Wir setzen also eine Menge Energie ein, um durch unsere Vorstellungen und Maßnahmen den Wert X im Kind möglichst stabil zu halten. Wir behaupten, dass es wertvoll sei, Grenzen zu setzen. Wir meinen einen möglichen Spielraum eingrenzen zu müssen.
- Mittagsschlaf ist genau dann, wenn das Kind nach Hause kommt.
- Erst Essen, dann Hausaufgaben machen, dann spielen.
- Um acht Uhr ist Bettgehzeit, zuvor müssen die Zähne geputzt sein.
- Wenn sich jemand so und so verhält, wird er bestraft (heute nennt man das Konsequenz)
- Wenn sich das Kind nicht sozialverträglich verhält, dann gibt es Sanktionen.
Mir erscheint es so, dass unsere Erziehungsmaßnahmen geradezu das Bild entstehen lassen, dass ein junger Mensch ein Objekt sei, das man formen muss. Wir haben das Bild, dass ein Kind auf bestimmte Verhaltensweisen ‚eingenordet‘ werden muss.
Der Schrei nach Grenzen und Regeln ist an den Stellen besonders groß, an denen diese immer umgangen werden und es Probleme gibt. Ganz schnell sind Erwachsene dann in der Situation, dass sie gefühlt immer hinter den Kindern her sein müssen und das ein Miteinander hauptsächlich aus Notinterventionen besteht. Man ist ständig in der Rolle des agieren und regeln müssens. Ein Hase und Igel Spiel, dass nicht enden möchte. Es ist anstrengend und nervenaufreibend.
Um dieses ‚Notinterventionen- Spiel‘ zu beenden und aus dem Hamsterrad des Stresses im Zusammenleben auszusteigen, scheint es mir sehr wertvoll zu sein, einen Moment anzuhalten und sich klar zu werden, was man da eigentlich tut?
Aus meiner Sicht kann man die Beachtung und Einhaltung von Regeln und Grenzen nicht erziehen. Es ist nicht möglich von ‚außen’ direkten Einfluss zu nehmen auf eine Haltung, die im besten Fall, im Inneren eines jungen Menschen entstehen kann.
Vielmehr erscheint es mir sinnvoll die Fähigkeiten der Selbstregulation eines jungen Menschen zu erhalten und zu unterstützen. Ich muss, wie im Beispiel mit dem Blutbild erwähnt, einen Spielraum bilden, der den jungen Menschen mehr Freiheit ermöglicht.
Damit ist in keinem Fall die Freiheit gemeint, die alles erlaubt, die grenzenlos ist und die Respektlosigkeit einlädt. Nein.
Es ist die Freiheit gemeint, die dem Kind erlaubt, innerhalb eines Spielraums Erfahrungen machen zu können und vor allem die eigenen Schlüsse daraus ziehen zu können.
Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist sicher von Anfang an da, aber sie will erhalten bleiben und braucht Raum und Zeit, Bindung und Beziehung, damit sie wirksam bleiben kann.
Es braucht die Erfahrung und gute Gespräche mit Erwachsenen, die junge Menschen, nicht auf einem Superwert X festzurren wollen, sondern körperlich, sinnlich erfahrbare Erlebnisse , in denen die Kinder selbst Respekt und Wohlwollen erfahren, in denen sie lernen Regeln zu verhandeln, sowie Klärungsgespräche zu führen. Alles ist wertvoll, dass die Selbstregulation „füttert“ und gerne auch durch Reibung wachsen läßt.
Diese Art mit Kindern zu sein, ist in vielen Fällen genau das Gegenteil von dem, was Erziehung und Lernen uns weismachen will.
Erwachsene, die das verstanden haben, hören unmittelbar damit auf, lautstark nach Grenzen und Respekt zu rufen.
Sie beginnen damit, einen zunächst unsichtbaren Teil im Kind mit Aufmerksamkeit zu füttern. Es ist kein „Dauer-ja“ zu allem. Es hat mehr mit einer gewissen Präsenz zu tun, die auch gerne mit etwas Reibung und Widerstand daherkommen kann. Bei manchen Kindern braucht es nur eine kleine Portion dieser Nahrung für Selbstregulation. Es gibt aber auch viele Kinder, die an dieser Stelle fast völlig ausgehungert sind. Gerade hier braucht es in meinen Augen eine Investition in Selbststeuerung, damit sie nachreifen können und stoppen können, die eignen und die Grenzen anderer zu verletzen.
Ich denke, dass man ein Zusammenleben in einem respektvollen Miteinander nicht erziehen kann. Bestenfalls kann man einen ‚Spielraum‘ schaffen, in dem sich eine gute Selbstregulation nachentfaltet kann. Für mich ist es immer wieder hilfreich, wenn wir Erwachsenen uns auch diesem Prozess der Nachentfaltung stellen. Das bedeutet für mich eine ständige Aufmerksamkeit oder Präsenz zu entwicklen und mich selbst zu beobachten, wenn mein Autopilot wieder das Steuer aus der Hand gerissen hat. Wenn ich den eigenen Autopiloten wahrnehmen kann, bin ich präsent und kann aufhören einfach nur unbedacht zu reagieren. Das Selbe wünsche ich mir ja auf Sicht gesehen von den jungen Menschen. Unser beider Entwicklung geht damit Hand in Hand.
Das nächste Tagesseminar, in dem dem Themen um Regeln und Grenzen immer wieder eine große Rolle spielt, ist schon am 09.06.18. Bist du diesmal dabei?